Freitag, 23. Januar 2009

Von der Geschichte des Häkelns

Als der mächtige Geist des Wassers die Indianer schuf, geschah dies in den Sümpfen und Urwäldern des Orinoko-Deltas in Südamerika, so berichtet eine uralte Sage der Karau-Indianer, die sich als die Nachkommen dieser ersten Indianer bezeichnen.
Der große Geist lehrte seine indianischen Kinder zu jagen und zu fischen, sich Hütten zu bauen und sich zu kleiden. Den Karau sollte es an nichts fehlen, dachte er, als er sich wieder in den großen Orinoko-Strom zurückzog.
Aber eines Tages hörte er lautes Jammern und Klagen am Ufer, und er verwandelte sich in einen Paradiesvogel und flog zu den Karau. Diese sahen den prächtigen Vogel und sagten zueinander: "Lasst uns diesem unser Leid klagen, er wird uns helfen!" Und sie sagten dem bunten Vogel, dass sie so traurig wären, weil sie keinen Schmuck für ihre einfachen Gewänder hätten.
Da nahm der Vogel einen endlosen Faden mit seinem schmalen, langen Schnabel, formte eine Schlaufe, zog das nächstliegende Fadenstück hindurch und so in einem fort, und es entstand ein Gewirk mit Blättern und Ranken, ein Gewebe, wie es die Karau noch nie gesehen hatten. Sie lernten schnell, diesen kostbaren Dinge selber zu machen, und weil sie sich statt des Schnabels dabei eines Stäbchens mit einem kleinen Häkchen bedienten, nannten sie die neue Technik "Häkeln".

So erzählt uns eine indianische Sage von der Entstehung einer Textiltechnik, die zu den beliebtesten Handarbeitstechniken unseres Zeitalters gehört. Der Wunsch der Indianer, zu schmücken, ist uns geblieben, wenn wir heute mit gutem Garn feinste Rosetten, Akanthusranken oder filigrane Sterne häkeln; sei es für Tischdecken, Stolen oder bunte Topflappen, die daraus entstehen.
Das früheste uns bekannte Häkelgewirk fand man in altägyptischen Gräbern. Keine ganzen Arbeiten, sondern nur kunstlose Fragmente. Die Technik hat man wohl aus einer Knüpftechnik, wie sie zum Knüpfen von Fischernetzen benutzt wurden, entwickelt. Vor dreitausend Jahren wohl die einfachste Möglichkeit, aus einem Wollfaden ein verhältnismäßig dichtes Gewirk herzustellen, wenn man keinen Webrahmen hatte. Doch kam dem Häkeln noch lange nicht die Bedeutung zu, die es Jahrtausende später erhalten sollte. Die alles beherrschende Textiltechnik in der Antike blieb das Weben. Flachs und Schafwolle wurden gesponnen und verwoben, da mit den damals schon recht weit entwickelten Webrahmen auch sehr große Stoffbahnen hergestellt werden konnten. Wollene Kleidung finden wir um 1350 v. Chr., dann in BabylonAssur, einer Kultur, die im Gegensatz zum schlichten Gewand Ägyptens das üppige, prunkvolle Wollgewand bevorzugt.
Ein Talent Wolle, das waren 30,3 Kilo, kostete zu jener Zeit etwa 15 Schekel, das waren 126 Gramm Silber. Für ein Wollkleid mussten die Damen Babylons etwa 1/3 Schekel, also 6,8 g Silber, in die Waage werfen. Dafür konnten sie auch zwei Lämmer für ihre Küche erwerben. Die ersten kunstvoll gehäkelten Umhänge und Mäntel tauchten im 5. Jahrhundert nach Christus bei den Kopten, den christlichen Nachkommen der alten Ägypter, auf.

Die Häkelarbeit hat seit der Zeit des Biedermeier (1815-848) in unserer Kultur ihren festen Platz. Wie sich in der Innenraum- und Möbelkunst ein schlicht behaglicher, der bürgerlichen Lebenshaltung entsprechender Stil entwickelte, so begann auch die Hausfrau mit den ihr zu Verfügung stehenden einfachen Mitteln eine eigene Form der Handarbeit zu entwickeln. Der Wunsch, nützliche Dinge auch schön zu gestalten, ohne nun gleich mit großem künstlerischem Aufwand belastet zu werden, führte zwangsläufig zur Häkelei. War doch hier die Möglichkeit gegeben, mit dem kleinstmöglichen Aufwand an Werkzeug und Platz des hervorragendste Ergebnisse zu erzielen. Der Formenreichtum der Spitzenklöpplerinnen Frankreichs und Belgiens konnte ohne die Anwendung der hochkomplizierten und äußerst anstrengenden Arbeitsweise dieser Technik weitgehend durch das Häkeln ersetzt werden. Man hatte eine Möglichkeit, aus dem Reichtum einer vorhandenen Formensprache, wie der der bildenden Kunst sowie auch aus den Motiven der Volkskunst heraus für Familie und Heim zu schöpfen.

Bis heute ist die Häkelarbeit neben dem Stricken die bedeutendste Handarbeit geblieben. Sie lässt den eigenen schöpferischen Fähigkeiten breiten Raum, ist unabhängig vom Ort und gibt auch dem eine Möglichkeit, dessen Hände oder Augen vielleicht mit dem Stickrahmen nicht mehr so ganz zurechtkommen.
Darüber hinaus ist die Palette der Dinge, die gehäkelt werden können, schier unendlich, und die Möglichkeit, von den schlichten Schals bis zu den raffiniert gestalteten Tafelüberwürfen eine unendlich anmutende Zahl von Farben, Formen und Materialien kombinieren zu können, machen diese Handarbeit einfach jedem zugänglich. Und jeder kann, seinen Fähigkeiten entsprechend, damit gestalterisch umgehen.
Aus all dem lässt sich ein einziger Schluss ziehen: Häkeln ist eine Volkskunst, die in jedem Maße lebendig geblieben ist wie nur wenige Dinge aus dem Bereich der Volkskunst. Und aus der Volkskunst schöpft bekanntlich auch der größte Künstler.
(Quelle: Burda-Häkel-Lehrbuch - Band 1)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen